Die blaue Sonnenbraut: Wenn die Wegwarte blüht, ist es Sommer. Was uns da in bezauberndem Blau von fast jedem Strassenrand her zunickt, ist eine äusserst vielseitige Heil- und Küchenpflanze.
Die sommerhimmelblauen Blumen schmücken Wegränder, Bahndämme und Ödland zwischen Juli und September. Der widerstandsfähigen Wegwarte macht sogar ein Standort an der Hauptstraße oder auf dem Mittelstreifen der Autobahn nichts aus – Hauptsache, es ist sonnig und trocken.
Es gibt nicht viele blaue Wildblumen, noch weniger blaue Korbblütler. Dem genauen Beobachter fällt auf, dass die Blütenköpfchen nur bei hellem Sonnenschein offen sind – ganze Straßen können ihren Charakter durch das Schließen und Öffnen der Wegwartenblüten verändern.
«Sonnenbraut» ist nur einer der vielen Namen für die Wegwarte, deren Blüten der Legende nach die blauen Augen eines verwandelten Burgfräuleins sind, das am Wege vergeblich auf die Rückkehr des Geliebten wartet. Ein anderer Mythos besagt, dass eine Wegwarte unter dem Kopfkissen eines Mädchens im Traum den zukünftigen Ehemann erscheinen lässt.
In Wirklichkeit kann sie viel mehr. In der Pflanze mit den hellblauen
Blüten, deren Ränder mausezähnchenartig gezackt sind, stecken nämlich
gleich drei liebe Bekannte. Von der Wegwarte (Cichorium intybus) gibt es
zwei Zuchtformen: die Variante «sativum», die Kaffeezichorie, und die
Variante «foliosum» mit den Untervarianten Chicorée, Radicchio und
Zuckerhut.
So begleitet sie uns nicht nur im Sommer als Augenweide am Wegesrand,
sondern auch beim Essen und Trinken. Eine nahe Verwandte, Cichorium
endivia, bereichert als Endivie, Eskariol (breitblättrig und nicht so
kraus wie die Endivie) oder als Frisée die Salatbar.
Blüten, Blätter und Wurzeln der Wegwarte oder Wilden Zichorie werden als
anregende und kräftigende Arzneien benutzt. Blüten und Blätter pflückt
man im Juli und August, die Wurzel wird im Spätherbst ausgegraben.
Als den Stoffwechsel regulierendes Mittel haben Sebastian Kneipp und
Alfred Vogel (besonders im «Leberbuch») die Wegwarte hervorgehoben. Dies
hat auch heute noch Gültigkeit, und Magen-, Leber- und Galletees
verzichten nicht auf die Wegwarte als wichtigen Bestandteil. Gerne wird
sie auch bei Appetitlosigkeit und als Kräftigungsmittel verwendet.
Die Hauptwirkstoffe sind Inulin (ein Ballaststoff, der die gesunde Darmflora stärkt) und Cholin (ein vitamin-ähnlicher Stoff, der die Ablagerung von Fett im Körper vermindert und unter anderem blutdrucksenkend wirkt). Der Bitterstoff Intybin ist zwar geschmacklich ein wenig gewöhnungsbedürftig, regt aber Speichelfluss und Magensekretion an und wirkt galle- und harntreibend.
Die zarten Blüten sitzen auf sparrigen, verästelten Stängeln. Die Wegwarte kann – je nach Standort – bis zu 150 Zentimeter groß werden.
Die Pflanzenheilkunde schätzt die Wegwarte auch als eines der wenigen Phytotherapeutika für die Milz, und in der ägyptischen Volksmedizin wird die Wurzel bei Tachykardie (zu schnellem Herzschlag) verwendet. Äußerlich wird die Wegwarte zur allgemeinen Reinigung bei Hautkrankheiten und Ekzemen eingesetzt. Die zerquetschten Blätter kann man als helfenden Umschlag bei Entzündungen verwenden. Unter dem Namen «Chicory» ist sie auch eine der «Bachblüten».
Die geröstete und gemahlene Wurzel der Wegwarte hat schon oft als Kaffeeersatz oder -zusatz herhalten müssen und heisst dann nach ihrem lateinischen Namen «Zichorie». Diese Verwendung war zwar schon im 17. Jahrhundert bekannt, aber ihren endgültigen Durchbruch hat die Zichorie Napoleon zu verdanken. 1806 verhängte der französische Kaiser die Kontinentalsperre, eigentlich als Wirtschaftsblockade gegen England gedacht. England schadete dies wenig – aber in Frankreich und anderen Staaten auf dem europäischen Festland wurden Lebensmittel, insbesondere importierte Genussmittel wie die exotischen Kaffeebohnen, knapp.
Cicely Mary Barker
Gleichzeitig erhöhten die exportierenden Länder die Kaffeepreise – die Zichorie begann ihren Siegeszug. Aus dieser Zeit stammt wohl auch der schöne Name «Muckefuck» (franz. «Mocca faux», «falscher Kaffee»). Zur Zeit der industriellen Revolution wurde die Verbreitung des Ersatzkaffees, sogar von Staats wegen gefördert. «Echter» Kaffee war ein Luxusgut und für Arbeiter zu teuer. Stattdessen half billiger Branntwein den Fabrikarbeitern, die bis zu 16 Stunden pro Tag schufteten, sich aufzumuntern und ihren schwierigen Alltag zu bewältigen. Nun aber gab es «Ersatzkaffee».
Die Beliebtheit des gesünderen Zichorienkaffees auch bei den Arbeitern und der Landbevölkerung kam den Staaten im Kampf gegen den Alkoholismus sehr entgegen. (Eine Rolle spielte aber auch das Bestreben, den Konsum von importiertem ausländischen Kaffee zu begrenzen.) So begann dank der Zichorie auch in Bauern- und Arbeiterhaushalten im 19. Jahrhundert der Tag mit einer Tasse Kaffee.
Heute wird Ersatzkaffee nicht mehr so bezeichnet, zu abfällig ist das Wörtchen «Ersatz». Als Landkaffee kennt und liebt man ihn aber immer noch, meist gemischt mit getrockneten Feigen und Getreide. Nicht zuletzt basiert auch A.Vogel Bambu auf Zichorie, der «Kaffee-Wegwarte». Die Wegwarte auf dem Teller Durch Züchtungen für den Ersatzkaffee entstanden Sorten mit dickeren Wurzeln.
Radicchio und Chicorée sind aus Zuchtformen der Wegwarte/Zichorie entstanden und mit ihren verdauungsfördernden Bitterstoffen sehr gesund.
Aus der Wurzelzichorie ging etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sorte «Witloof» (Weisslaub) hervor, aus der man bis heute den Chicorée treibt. Als Salat, viel besser aber noch als gedünstetes Gemüse mit feinen Saucen oder überbacken, bereichert er seitdem den winterlichen Speisezettel. Im Mittelmeerraum, besonders in Italien, gibt es zahlreiche Zichoriensorten, die als Wintersalate genutzt werden. Aus Kampanien und Kalabrien stammt wahrscheinlich die traditionelle Verwendung der Wildform als Salat oder Gemüse.
Italienische Gastarbeiter führten die Catalogna in die Schweiz ein, eine löwenzahnähnliche Zichorie, die in unseren Breitengraden nicht winterhart ist, die man aber inzwischen auch auf Märkten und bei den Grossverteilern kaufen kann. Zuckerhut und die rotblättrige Form Radicchio sind schon länger bei uns bekannt.
Zichoriensalate sind ausserordentlich gesund, leicht anzubauen und für Schnecken kaum interessant – was den Hobbygärtner freut, der sich mit den gefräßigen Schleichern um die zarten Salate streitet.
Übrigens: Wenn Sie diese Kulturformen im Garten blühen lassen, werden Sie die gleichen wunderschön blauen Blüten wie bei der Wegwarte entdecken. • Claudia Rawer
Wegwarten-Tees wirken stimmungsaufhellend und sind gut zur Leber.
Leber-Galle-Milz-Tee
Die Kräuter zu gleichen Teilen mischen. Ein TL Tee auf eine Tasse Wasser
kalt ansetzen und fünf Minuten kochen lassen. 2-3 Tassen täglich -
bitter, aber wohltuend.
Nimmerweh-Teemischung
20 g Wegwartenblüten
20 g Blaue Malvenblüten
10 g Veilchenblüten
10 g Borretschblüten
Ein stimmungsaufhellender Tee: Einen gehäuften Teelöffel mit einer Tasse
kochendem Wasser übergießen (in einem Glasgefäß, dann kann man die
schöne Blaufärbung beobachten).
Rezepte aus: Susanne Fischer-Rizzi, Medizin der Erde.