Schokolade, Biskuits oder Kuchen verschlingen, um sich zu trösten?
Über den Hunger hinaus essen, weil man frustriert oder gelangweilt
ist? Das Essen aus emotionalen Gründen – das sogenannte «Comfort-
Eating» – ist mit Abstand die am weitesten verbreitete Störung des
Essverhaltens in wohlhabenden Ländern. Petra Horat Gutmann (GN 3.14)
Heißhungerattacken am Abend? Angst vor dem Dickwerden?
Missglückte Diätversuche? Diese und viele weitere
«Essprobleme» gehören für Margreth Brühl zum
Alltag. Als diplomierte Ernährungsberaterin am
Kantonsspital Liestal und an der Klinik
Schützen in Rheinfelden hat sie tagtäglich
mit Menschen zu tun, die
unter Störungen des Essverhaltens
und Übergewicht leiden.
Dass immer mehr Menschen
von Essverhaltensstörungen
und Korpulenz betroffen
sind, ist für die Fachfrau
kein Zufall.
«Es besteht ein Defizit an
Verhaltensstrategien im
Umgang mit dem Überfluss
an Nahrungs- und
Genussmitteln», sagt
die 54-Jährige.
«Hinzu kommen
neue Essgewohnheiten,
die durch
Zeitknappheit,
Effizienzdruck und
die Lust, dauernd
Neues zu entdecken,
geprägt sind.»
Auch der kollektive
Schlankheits- und Diätwahn
spiele eine Rolle, unterstreicht
Margreth Brühl. Die meisten Diäten seien fremdbestimmt, also durch
Einflüsse von außen gelenkt, und würden die interne
Regulation von Körper und Psyche außer Acht
lassen. Viele Abnehmvorschriften würden beispielsweise
einseitig auf Willen oder
Disziplin setzen und das Kontroll-Paradox übersehen, dass ein
Verhalten häufiger auftrete,
wenn man es zu unterdrücken
versuche.
Der Begriff Comfort-Eating leitet sich her vom englischen
Wort «Comfort», auf deutsch «Trost» oder
«Behaglichkeit». Der Comfort-Eater isst also, um
sich zu trösten, beziehungsweise um sich behaglicher
zu fühlen. Zum Beispiel, weil er gestresst ist,
nervös, ängstlich, ungeduldig, besorgt, wütend,
frustriert oder gelangweilt.
Margreth Brühl sagt über das Comfort-Eating: «Bildhaft
ausgedrückt, ziehen sich Comfort-Eater Pantoffeln
an. Mit dieser Fußbekleidung fühlen sie sich
wohl und entspannt. Doch die Taktik funktioniert
nur vorübergehend. Auf Dauer beeinträchtigt sie
das Wohlbefinden, denn sie ist weder gesundheitsfördernd
noch gewichtsfreundlich und engt die
Selbstwahrnehmung zu stark ein.»
Der Comfort-Eater brauche deshalb seelische «Wanderschuhe», sagt die Therapeutin: «In diesen Schuhen kann er sich auf eine Entdeckungsreise machen, die ihn näher zu sich selbst führen wird.» Für den Beginn dieser Reise ist es hilfreich zu wissen, dass sich die innere Instanz, die das Essen steuert, ausschließlich «am Jetzt orientiert», wie Margreth Brühl erklärt. «Gedanken an die Zukunft – beispielsweise an mögliches Übergewicht, an gewichtsbedingte Gelenkabnützung oder hohen Blutdruck – spielen im Moment des Essens keine Rolle.» Deshalb müsse man sich «Jetzt-Ziele» setzen, wenn man sich aus den Fängen des Comfort-Eatings befreien wolle.
Weitere Informationen :
Am Kantonsspital Liestal, wo Margreth Brühl das auf den Körper konzentrierte und lösungsorientierte Esstraining «Versöhnung mit Praliné & Co.» leitet, kann die Therapeutin täglich beobachten, wie Menschen mit einer Essverhaltensstörung oder Übergewicht anfangen, sich solche Jetzt-Ziele zu setzen. Dazu Margreth Brühl: «Es macht keinen Sinn, dass diese Menschen Kalorien zählen oder dauernd überlegen, was sie essen dürfen und was nicht. Das ist zu kopfgesteuert und bringt auf Dauer nichts. Wichtig ist, dass die Betroffenen mit ihrer Aufmerksamkeit ganz ins Hier und Jetzt kommen: zu den Empfindungen ihres Körpers, zum bewussten Wahrnehmen ihrer Gefühle und Gedanken.»
Dazu gehöre, dass man sich folgende Fragen stelle, wenn sich die Esslust melde:
Margreth Brühl weiß aus langjähriger Erfahrung,
dass viele Comfort-Eater oder Übergewichtige erst
dank einer solchen Selbstbeobachtung merken,
dass sie ihren Körper gar nicht wahrnehmen. Genau
dies sei jedoch der erste Schritt auf dem Weg
zur Harmonisierung des Essverhaltens.
Um diese Fähigkeit zu schulen, rät Margreth Brühl
zu einer kleinen Pause: «Untersagen Sie sich das
Essen nicht, wenn Sie Appetit bekommen, aber
verschieben Sie den Beginn des Essens um einige
Minuten.»
Voraussetzung dafür sei, dass man vorher
keine Mahlzeit habe ausfallen lassen. Andernfalls
gehe ein Notfallprogramm los, das man nicht
mehr steuern könne.
«Wichtig ist auch», so Margreth Brühl, «dass man den zeitlichen Aufschub nicht mit einer kopflastigen Tätigkeit überbrückt, sondern mit einer Aktivität, welche die Selbstwahrnehmung verfeinert.» Also zum Beispiel mit achtsamem Atmen, körperlicher Bewegung oder einer mentalen Entspannungsübung.
Die Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung rund ums Essen lässt sich mit einer Vielfalt von spielerischen Übungen fördern. Hier sind drei Beispiele der Therapeutin Magreth Brühl:
Essen Sie ohne jegliche Ablenkung, wie Margreth Brühl empfiehlt: ungestört durch Radio, Fernseher, Lektüre oder Telefon, in Gedanken ganz beim Essen, konzentriert aufs Schmecken der Nahrung. «Machen Sie sich die Befriedigung, die sich gerade im Mund vollzieht, voll bewusst. Nehmen Sie das Knackige, Weiche, Knusprige, Glatte, Süße, Salzige auf Ihrer Zunge wahr – kurz: alle Nuancen von Textur und Geschmack der Speise.»
Die gesammelten Informationen werden im Befriedigungszentrum
des Gehirns die Botschaft «Das
schmeckt gut!» auslösen, begleitet von einem Gefühl
der Freude und Entspannung. Gleichzeitig führen
das achtsame Essen und das daraus resultierende
langsamere Kauen über nerval-biochemische
Prozesse zu einem Gefühl der Zufriedenheit und
einer rascheren Sättigung.
Das bestätigen auch Margreth Brühls Kursteilnehmer:
Ihr Erstaunen ist jeweils groß, wenn sie das
erste Mal erleben, dass der achtsame Genuss eines
einzigen Biskuits oder eines Stückchens Schokolade
ein Gefühl der satten Zufriedenheit hervorrufen.
Für eingefleischte Comfort-Eater sind solche Erlebnisse
beeindruckend, zumal die meisten von ihnen
selten richtig in die Nahrung hineinschmecken.
Auch sind viele von ihnen überzeugt, dass das Essen großer Mengen genussvoll sei, wie Margreth Brühl feststellt: «In Wahrheit wird das Geschmackserlebnis nicht größer und toller, je mehr man isst. Im Gegenteil: Es kommt mit zunehmendem Essen zu einem Rückgang der Wahrnehmung.»
Auf ihrer Entdeckungsreise können Comfort-Eater
lernen, dass nicht der leer gegessene Teller oder
die leere Chipstüte das Signal zum Aufhören geben,
sondern das eigene Körpergefühl, vorab das Sättigungsgefühl
von Magen und Bauch.
Wurde dieses jahre- oder gar jahrzehntelang ignoriert, könne es am Anfang anstrengend sein, achtsam zu essen, weiß Margreth Brühl. «Auch werden einem die alten Essgewohnheiten immer wieder einen Streich spielen. Doch jeder Versuch, achtsam zu essen, prägt sich dem Gehirn ein. So entsteht allmählich ein neuer Daten-Pfad im Gehirn, der sich mit der Zeit in eine Daten-Autobahn verwandelt, und diese wird das harmonische Essverhalten festigen.»
Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass
Comfort-Eater unangenehme Emotionen und negative
Gedankenmuster entdecken, sobald sie anfangen,
sich systematisch aufmerksamer zu beobachten.
Beispielsweise, dass man jeden Abend eine
Schachtel Biskuits verschlingt, weil man sich langweilt.
Für Margreth Brühl sind solche Entdeckungen eine
wunderbare Gelegenheit, um die innere Freiheit zu
entfalten: «Statt automatisch zu den Biskuits zu
greifen, beginnt man im Idealfall, über alternative
Verhaltensstrategien nachzudenken. Man macht
sich daran, das eigene Potenzial zu erforschen und
zu nutzen.»
In diesem Zusammenhang ist es gut zu wissen, dass negative Emotionen keine unveränderlichen Naturgesetze sind. Man kann lernen, elastischer mit ihnen umzugehen! Dazu Brühl: «In jedem Menschen schlummern Begabungen und Qualitäten, mit deren Hilfe man beispielsweise ein Gefühl wie Langeweile konstruktiv verwandeln kann.»
Auch die Selbstgespräche der Comfort-Eater bieten häufig Optimierungsbedarf. Margreth Brühl hat beobachtet, dass viele Comfort-Eater und Übergewichtige dazu neigen, sich selbst Vorwürfe zu machen, sich zu beschimpfen oder gar zu erniedrigen, wenn sie kulinarisch über die Stränge hauen. Es sei deshalb wichtig, so die Therapeutin, dass sie sich immer wieder fragen: «Wie rede ich mit mir? Würde ich auch mit anderen so reden?» Denn eine freundschaftlich-unterstützende Einstellung zu sich selbst erleichtert den Umgang mit negativen Gefühlen und harmonisiert das Essverhalten.
Die Erfahrung zeigt: Comfort-Eater, die in diesem
Sinne achtsam unterwegs sind, vertrauen ihrem
Körpergefühl und ihrer Intuition mit der Zeit immer
mehr. Sie bevorzugen von alleine mehr natürliche,
vitalisierende Lebensmittel, naschen weniger und
nehmen sich kleine kulinarische «Ausrutscher» weder
übel noch dramatisieren sie diese.
Auch nutzen sie neben dem Essen vielfältige Verhaltensstrategien, um sich wohler zu fühlen – zum Beispiel, indem sie im richtigen Moment angenehme Musik hören, einem interessanten Hörbuch lauschen, sich in einen schönen Bildband vertiefen oder unter eine kuschelige Decke schlüpfen. In den Wanderschuhen der Achtsamkeit finden letztlich alle Comfort-Eater zum gleichen Ziel: Weg vom gedankenlosen Essen hin zu einer facettenreichen, freudvollen Selbstfürsorge.